Relaunch Tagesspiegel.de: Schön schön

Mehr Wind als die meisten anderen Verlage hatte man um den eigenen Relaunch gemacht. Schön solle die neue Site sein und zeitungsähnlich. Auf dass man die Berliner Kollegen von Welt Online überhole.

Zumindest die erstgenannten Ziele wurden erreicht.

Ausgesprochen positive Leserkommentare erhält die neue Site bislang. Und man kann nur zustimmen. Denn schön ist er, der neue Auftritt.

Sehr viel Weißraum, Serifenschrift und angenehme Farben sorgen für einen schönen Eindruck.

Und dann stellt sich bei genauerer Betrachtung eine eigenartige Spannung ein. Eine Spannung zwischen Begeisterung für das schöne Design und der Entgeisterung darüber, dass einige zentrale, sinnvolle Gestaltungskriterien für Nachrichtensites nicht eingehalten werden.

Statt den Nutzer in Themen hineinzuziehen, ist die Site extrem nach Funktionen strukturiert. „Interviews“, „Blogs“, „Videos“ und ähnliche Sektionen bzw. Überschriften treten in den Vordergrund, die thematische Gliederung in den Hintergrund.

Und dabei kann man mit sehr einfachen Methoden herausfinden, dass letztere i.d.R. die bevorzugte Strukturierung der Leser ist.

Da helfen auch die Tags auf den Indexseiten nur wenig.

Während viele neue Sites zum Seitenende und z.T. auch zum rechten Rand hin großflächiger werden, um dem sich dort befindlichen Content überhaupt eine Chance zu geben, wahrgenommen zu werden, ist der Tagesspiegel dort ziemlich kleinteilig (siehe Liste der aktuellsten Relaunches)

Ähnlich wie auf NYTimes.com endet z.B. die Homepage mit einer Bleiwüste. Meine Vermutung: völlig wirkungslos. Kommentar einer Leserin nach dem NYTimes.com-Relaunch: „Diese Listen schaut man sich mal an, wenn man viel Zeit hat. Aber die hat man nicht.“

Auch Features wie die Kalender auf den Indexseiten oder die Lesezeichen-Funktion dürften nur Nutzungszahlen in homöopathischen Größenordnungen erzielen.

Schön anzusehen ist es, dass der Tagesspiegel nach Sites wie denen der Aachener (Zeitung / Nachrichten) oder den Westfälischen Nachrichten den internationalen Gepflogenheiten folgt und die gesamte 1024-Pixel-Breite des Bildschirms nutzt. Werbung wird (bislang?) dezent eingesetzt (oder mein Adblocker arbeitet sehr gut).

Die Themenlisten in den grauen Kästen auf den Themenlisten sehen zwar insb. wegen Ihrer farblichen Verbindung mit der Navigationszeile eigenartig aus, stellen aber dennoch eine willkommen Verbesserung der üblicherweise unleserlichen Tag-Clouds dar.

Insgesamt strahlt die Site den Wunsch oder Glauben aus, dass die Leser sich viel Zeit für einen Besuch nehmen werden. Die angesprochene Kleinteiligkeit, die Viel-Spaltigkeit, die sehr langen Textzeilen, die Frakturierung von Themen in funktionale Blöcke wie z.B. „Videos“, „Blogs“ etc. – all das kostet den Nutzer Aufwand.

Die Site positioniert sich folglich eher in der Nähe von Zeit.de als in der Nähe von Sites, die auf eine hochfrequente Nutzung ausgelegt sind.

Welt Online erreicht pro Woche 410.000 Nutzer (Q4 2006; AGOF), der Tagesspiegel 240.000. Natürlich ist nicht nur die Site-Struktur dafür verantwortlich, ob mehr Nutzer häufiger die Site besuchen. Aber diese Site macht es sich unnötig schwer, Welt Online einzuholen.

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